Ateliergespräche - Jonathan Meese

Rene S. Spiegelberger & Jonathan Meese im AtelierJM: Du glaubst, dass das läuft...

RS: Der zeichnet jetzt auf, ja. Ich hab‘ dir 12 Fragen mitgebracht.

JM: Okay, ja.

RS: Wollen wir da einfach mal durchpreschen?

JM: Logisch. Wir machen, was du willst. Heute [lacht].

RS: Du sagst von dir selber, du sammelst. Warum Brillen, Stofftiere und keine Picassos?

JM: Picassos sammle ich auch, in Katalogform. Aber Originale kann ich mir nicht leisten. Will ich auch gar nicht. Ich bin gar nicht so scharf drauf. Also ich kauf schon Originale von Künstlern, aber dasmuss jetzt nicht sein. Ich liebe aber Picasso. Ich hab mir natürlich alle Kataloge gekauft, das reicht mir.

RS: Sammelst du Meese?

JM: Ich sammle alles, was über Meese im Umlauf ist. Ja, das muss ich archivieren und vor allen Dingen meine Mutter archiviert’s. Wir haben Ordner voll Material und das ist gut so. Ich seh‘ mich auch fast schon als dritte Person, ich bin gar nicht mehr irgendwie eine normale Figur, sondern ich bin Soldat der Kunst. Deshalb nenne ich mich auch Meese oder spreche in der dritten Person. Dann hat man auch eine Distanz zu sich selber.

RS: Das kann ja manchmal hilfreich sein, oder?

JM: Absolut. Ich will das Persönliche auch ein bisschen raushalten. Ich fühle mich als eine Maschine der Kunst, ich produziere viel, ich produziere viel mit Liebe und ich bin immer im Dienst.

RS: Du sagst, du sprichst von dir selber in der dritten Person, Beuys hat das auch getan. Hat das etwas mit der Distanz zur eigenen Arbeit zu tun?

JM: Ja. Das ist eine Methode, um nicht von seiner eigenen Arbeit aufgefressen zu werden. Wenn man viel macht und in der Öffentlichkeit steht, muss man Distanz wahren, sonst muss man sich umbringen.

RS: Ist es dann auch eine Hilfestellung der Objektivierung gegenüber der eigenen Arbeit? Kannst du dadurch, dass du sagst: „Ich guck mir jetzt mal Meese an“, auch objektiver beurteilen, ob es ein guter Meese ist, oder dass du sagst: „Da müsste der Meese wohl noch mal ran“?

JM: Unbedingt. Es heißt immer, sieh von dir ab. Guck das Ding an, als ob das ein Fremder gemacht hat, und dann kommst du weiter. Also sich darin zu versenken oder zu denken, das ist ein Produkt meines Ichs, da kommt man nicht weiter. Also mein Ich spielt hier überhaupt keine Rolle, das existiert nicht. Sieh von dir ab, mach es einfach, und dann kannst du besser auch damit umgehen, sonst erschlägt es dich. Wie willst du damit umgehen? Wenn du immer nur dein Ich suchst oder darin dein Ich gespiegelt siehst, dann kommst du nicht weiter. Dann wirst du entweder selbstverliebt oder du kannst die Sachen nicht mehr rausgeben. Du musst sie ja auch wegstoßen. Und mit dem Wissen, dass sie meistens in nochbessere Hände kommen, als man sie selbst pflegen könnte. Das ist ja das Tolle an Kunst. Wenn jemand sie kauft, dann wird er damit ja toll umgehen, das ist etwas ganz Wunderbares. Dann hat man wieder einen freien Raum.

RS: Alles, was ideologisch ist, ist nicht Kunst. Gilt damit auch der Umkehrschluss, dass alles, was Ideologie-frei ist, automatisch Kunst ist?

JM: Ja. Das ist genau die Definition, die momentan die präziseste ist. Und damit kann man leben. Also alles, was jeder Mensch macht, oder auch jedes Tier, was nicht ideologisch ist, ist Kunst und kunstwürdig und als Kunstwerk anzuerkennen. Also, wenn ein Mensch schläft, selbst der mieseste Ideologe, im Schlaf ist er Künstler. Weil er da bislang noch keine ideologischen Dinge produzieren kann. Die Träume, die wir träumen, sind bislang noch nicht ideologisch. Es wird wahrscheinlich bald Pillen geben, dass man selbst den Schlaf durchideologisieren will, aber da müssen wir abwarten, ob das überhaupt geht. Träume sind momentan noch Ideologie-frei, Politik-frei, Religions-frei. Also natürlich hat man irgendwelche Träume, in denen irgendwas vorkommt, aber das ist nicht gesetzt. Das fliegt an uns vorbei und nimmt uns mit auf eine Reise. Und das ist eine sehr präzise, wirklich auch anwendbare Definition von Kunst.

RS: Naja, der erste Teil ist ja ein Zitat von dir gewesen, insofern...

JM: Ja, genau.

RS: Mir war das mit dem Umkehrschluss einfach wichtig, weil ich schon glaube, dass es eine hohe Kunst ist, Kunst zu definieren.

JM: Also ich bin ja der Manifest-Fanatiker und Manifest-Meister, ich habe tausende von Manifesten geschrieben. Und es gibt ja auch andere Definitionen, Kunst ist keine Kultur, Kunst ist Spiel, Kunst ist das Morgen, Kunst ist Zukunft. Also das Synonym von Kunst ist Zukunft. Das was die Zukunft bringt, ist Kunst. Wenn wir die Vergangenheit bemühen wollen, um die Zukunft zu kontrollieren, dann kriegen wir es nicht hin. Wir müssen die Zukunft befragen, und die gibt uns ein Zeichen, wie sie ist. Oder Kunst ist eben das, was Kinder denken. Es gibt viele, viele Definitionen, die möglich sind, Kunst ist das Gegenteil von Nicht-Kunst, das sind dann Sachen, die auch schon gesagt wurden.

RS: Jonathan, ob Richard Wagner oder #metoo-Debatte – du warnst davor, Künstler und Werk nicht mehr voneinander zu trennen.

JM: Ja.

RS: Wie wichtig ist dir der Erzeuger eines Werkes für dessen Wirkung? Ist er nur das Werkzeug der Kunst oder ein Teil davon?

JM: Er ist nur das Werkzeug. Also in einem Picasso ist kein Picasso mehr drin.

RS: Gilt das für jede Form der Kunst.

JM: Ja. Auch in einem Film über mich bin ich ja nicht in dem Film. Also ein Foto ist ja eine chemische Substanz auf einem Untergrund. Und in keinem Foto bin ich drin, es sind Abbilder von mir. Das hat mit mir nichts mehr zu tun. Vielleicht wird man eine genetische Spur entdecken und dann wieder irgendwann, wenn man Menschen klonen kann, aber das hat nur was mit dem Klon-Material zu tun. Also die Vorstellung, dass in einem Bild von Warhol Warhols Gefühle wären, das ist leider Esoterik.

RS: Gibt es nicht Kunstrichtungen, wo Werk und Künstler nicht trennbar sind? Und wo das Problem besteht, dass in der Abwesenheit, im Extremfall nach dem Ableben des Künstlers, die Gewichtigkeit des Werkes sich relativiert?

JM: Ja, es gibt zum Beispiel Künstler, die so versachlicht waren, dass sie schon als Menschen Kunstwerke waren, Warhol zum Beispiel, Gilbert & George, ich vielleicht auch in einer gewissen Hinsicht. Aber trotzdem, wenn der Mensch tot ist, dann ist er weg. In einem Foto von Gilbert & George wird kein Gilbert & George mehr zu finden sein. Man kann natürlich meine Knochen ausstellen oder mich ausstopfen, aber...[lacht] das ist nicht mehr der Mensch, der gelebt hat.

RS: Klar. Ja.

JM: Was auch gar nicht sein muss. Warhol ist ein so unfassbar genialer Künstler gewesen, der war, wenn er einen Raum betreten hat, Kunst, ein Kunstwerk. Der hat auch jede Party zur Kunst gemacht.

RS: Ja.

JM: Das können aber nicht viele [lacht]. Also Beuys hatte das auch, diese Tendenz, als Typ schon Künstler zu sein. Der hatte die Ausstrahlung, der hatte das Äußere, der hatte die Uniform – herrlich! Auch Dalí, wahnsinnig geiler, unterschätzter Künstler, ein großartiger Künstler! Duchamp, wunderbar! Picasso, herrliche Figur! Schon als Kunstwerk eigentlich, als Figur skulptural. Trotzdem, selbst wenn diese Figuren sterben, die eigentlich unsterblich sind, bleibt nur das Werk übrig. Und oft wird ja so komisch geredet, so: Oh, da steckt so viel Gefühl von dem Meese in dem Bild. Äh, nee. Das ist falsch [lacht]. Da steckt Farbe drin auf einem Untergrund. Ja, also da steckt noch nicht mal Fantasie drin, sondern das ist einfach ein Konstrukt.

RS: Ja.

JM: Es ist ja meistens lieb gemeint, wenn jemand hier in eine Ausstellung reinkommt und sagt: Oh, das Bild da hinten sagtmir nichts. Und dann antworte ich immer: Das redet auch gar nicht, das kann dir gar nichts sagen. Selbst wenn da ein Sprachmotor drin wäre, ist das ein Konstrukt.

RS: Ja.

JM: Also du musst dich selbst überprüfen, wie du über Kunst redest. Das gefällt mir nicht, ist einem Bild komplett egal.

RS: Das stimmt.

JM: Das ist dem vollkommen wurscht. Einem Van-Gogh-Selbstportrait ist es vollkommen egal, ob ich es mag. Es ist Kunst, das ist das Entscheidende. Es hat alle Geschmäcker und jeden Zeitgeist hinter sich gelassen.

RS: Ich hab zwei komplizierte Fragen mitgebracht. Die erste folgt jetzt.

JM: [lacht]

RS: Deine Liebe zu Richard Wagner ist bekannt. Die Kunst und die Revolutionist eine der Hauptschriften Wagners. Er sah die Chance, durch eine grundlegende Veränderung der politischen und sozialen Verhältnisse auch die Theater verändern zu können. Man könnte meinen, dass du diese These umkehrst: Nicht durch die Revolution erlangt die Kunst ihre Wahrhaftigkeit wieder, sondern durch die wahrhaftige Kunst revolutioniert man die Welt. Von deinem Atelier aus eines Tages Berlin, Deutschland, Europa?

JM: Und die ganze Welt. Und die ganzen Weltensogar.

RS: Ist das dein Einsatz?

JM: Ja, absolut. Die Kunst muss sich ausdehnen und die schreckliche Realität verdrängen und Richard Wagner hat schon viel verstanden: Gesamtkunstwerk und alles zusammenführen und alles muss perfekt und geilst und präzise sein. Perfekt ist übrigens falsch, es muss präzise sein, nicht perfekt. Perfekt ist schon tot.

RS: Hm.

JM: Wenn etwas perfekt ist, ist es tot. Es muss präzise, liebevoll zusammenkommen. Das ist ja das Tolle bei Richard Wagner, da muss der Dirigent stimmen, es muss das Bühnenbild geil sein, es muss aber auch das Haus super sein und die Klos müssen geputzt sein, es muss alles miteinander... alles muss stimmen.

RS: [lacht]

JM: Das Essen muss gut sein, die Leute müssen stimmen, der Neid muss weg...

RS: Ja.

JM: ...die Missgunst, der Konkurrenzkampf, nur im Sinne der Kunst. Dann kommt ein Gesamtkunstwerk zusammen, wenn eben die Bühne stimmt, das Licht stimmt, alles stimmt. Und das kann man übertragen auf die Welt: Wenn alles stimmt, also alles miteinander verzahnt, dann kommen wir zu einem Gesamtkunstwerk. Und das hat uns auch zu regieren. Das ist nämlich liebevoll – und radikal zugleich. Und geil.

RS: Aber es zeigt doch eine komplett andere Gesellschaft, die wir in der Zeit Wagners vorgefunden haben und die wir jetzt vorfinden, wenn diese These der Umkehr so funktioniert, wenn wir damals sagen, oder damals Wagner gesagt hat: Politische und soziale Verhältnisse können das Theater positiv verändern. Und du sagst heute: Wir müssen das umdrehen...

JM: Ja.

Jonathan MeeseRS: Wir müssen aus der Kunst heraus die Gesellschaft und die Welt verändern. Dann heißt das eigentlich, man kann an dieser Standortbestimmung der Kunst den Zeitgeist festmachen, der damals – ich will’s nicht werten – vielleicht kein besserer oder schlechterer war, aber ein völlig anderer.

JM: Ja. Ich denke aber, dass der Wagner es in Wirklichkeit doch von der Kunst aus meinte. Er merkte ja auch, dass die Kunst überleben wird und alles andere nicht. Und Wagner mochte die Wagnerianer nicht – wie Nietzsche auch. Nietzsche mochte die Nietzschianer nicht. Weil die das als Religion gesehen haben. Ich meine, ich war in Bayreuth, ich hab’s ja gesehen. Die Wagnerianer und die... [überlegt] die, die dahinter stecken, die wollen gar keine Kunst mehr. Die wollen das durchpolitisieren. Die wollen da eine politisch korrekte oder politisch abgesicherte Nummer abliefern. Es soll jedem gefallen und dann ist es auch keine Kunst mehr.

RS: Ja.

JM: Das ist nur noch ein[e] Polit-Zirkus-Geschichte. Das fand ich so traurig, weil ich dachte, ich bin da eingeladen, um neuen Wind reinzubringen und auch die Stadt zu verändern. Ich dachte, man kommt mit einem völlig anderen Blick auf Wagner und entkontaminiert das alles, und macht es zukunftsfähig. Und dann hat man diese ganz sturen, stumpfen Leute, die irgendwas von vorgestern wollen.

RS: Die wollen nur Politik.

JM: Ja, die wollen nur Politik. Und eigentlich heißt es ja, hier gilt‘s der Kunst. Kinder, schafft Neues!Das hab ich ernst genommen. Ich hab gedacht, Richard Wagner, da können wir doch anknüpfen: Kinder, schafft Neues. Und dann Nietzsche, ich hatte immer Nietzsche im Kopf, spielen, spielen, spielen. Und als Katharina Wagner bei mir war, war das auch die Devise. Die war hier, wir haben miteinander geredet und sie hat gesagt: Du kannst alles machen, wir geben dir keine Grenzen, du kannst auch in Wahnfried ausstellen, mach alles, was du willst. Und plötzlich – war wahrscheinlich die politische Karte: Nee, du darfst nicht.

RS: Das ist ein Jammer, aber das Gute ist, dass du dich davon ja eigentlich nicht hast beeindrucken lassen?

JM: Ja.

RS: Ich war in deinem Mondparsifal, wir haben aber was gemacht und da darfst du jetzt mit mir schimpfen: Meine Frau und ich waren vor der Pause da, und Freunde dann nach der Pause, weil wir beide wieder früh zurück nach Hamburg mussten.

JM: Hiii.

RS: Und die Freunde waren noch auf einer Abendveranstaltung, daher haben wir uns die Vorstellung geteilt [lacht]. Ich kann also nur über die erste Hälfte sprechen.

JM: Finde ich aber total richtig, man kann auch mal eine Hälfte durchschlafen. Das zeigt doch nur, dass es einen in eine andere Welt zieht.

RS: Ein großer Teil dieses Werkes war ja auch die Gesamtinstallation.

JM: Ja, natürlich.

RS: Und unter der Bühne.

JM: Unter der Bühne, man muss eben alles nutzen. Das hätte ich auch von Bayreuth erwartet. Dass man mir dann auch den Vorraum gibt und den Garten schenkt und sagt: Komm, mach alles, ändere es hier! Ändere! Was kann man denn falsch machen? Das einzig Falsche ist, in vorgefertigten Bahnen einen Weg zu gehen. Das ist Mitläuferei, das geht nicht. Das interessiert mich nicht.

RS: Hm.

JM: Und ich bin letztendlich dankbar, dass ich auch gemerkt habe, ich kann hier nichts machen. Und meine Mutter sagt auch: Zum Glück bist du da raus, du wärst ja krank geworden. Wenn du irgendwo bist, wo dir am Anfang gesagt wird, du kannst alles machen, und dann kommt ein Stoppschild nach dem nächsten. Dann denkst du: Was ist denn hier los?

RS: Nein, das macht ja auch keinen Spaß dann. Und vor allem ist es dann ein Kompromiss am Ende.

JM: Ja, genau.

RS: Aber ich möchte noch mal aus dem Kompromiss raus – in die Radikalität: Wie sieht dein theoretisches Konstrukt zum Kunst-Staat aus und wie würde in diesem der Alltag aussehen?

JM: Wir müssen erstmal begreifen, was der Fehler ist. Und dann müsste man diesen Fehler sozusagen eliminieren. Fehler ist Politik, Religion, Ideologie nach meinem Empfinden. Und das kann man alles abschaffen. Denn das, was man angeschafft hat, kann man auch wieder abschaffen. Und dann müssen wir uns sozusagen darüber einig werden, dass es bestimmte Dinge gibt, die wir nicht mehr brauchen, und dann loslegen. Eine Stadt muss weder politisch noch religiös geführt werden. Sie kann einfach geführt werden. Wir brauchen natürlich Bürgermeister und Bürgermeisterinnen, wir brauchen Leute, die die Straßen pflegen, aber das macht man nicht mehr links- oder rechtspolitisch, das macht man nicht mehr katholisch oder protestantisch oder atheistisch, sondern man macht es für die Sache. Das ist möglich.

RS: Hm.

JM: Man muss es nur wollen. Und wenn man das macht, kann man ein völlig anderes Zusammenleben herstellen. Wir sind einfach verquast. Wir leben in einer ganz altmodischen Denkweise, wir leben so, als ob wir noch denken, dass die Erde flach ist, ja?

RS: [lacht]

JM: Und die Erde ist ja auch flach, in der Kunst, manchmal. Aber manchmal ist sie in der Kunst auch eckig oder rund oder sie existiert gar nicht. Und ich denke, wir sind gerade wieder an so einer Schnittmenge, wo ganz viele Menschen Angst haben. Vor der Zukunft. Wir müssen den Leuten sagen: Das brauchst du nicht zu haben, das ist auch unfair den Kindern gegenüber. Kindern Angst vor der Zukunft zu machen, ist ja wohl das Entsetzlichste, was es gibt.

RS: Das stimmt.

JM: Weil Kinder müssen doch in eine Zukunft reinsausen, wo man sagt, die wird geil für dich. Und wir leben gerade in so Zeiten, wo einem alles madig gemacht wird. Überall Angst. Und du denkst so: Wieso? Es ist doch alles eigentlich geil.

RS: Hm.

JM: Warum wird das alles eigentlich so schlecht gemacht? Und gerade in der Kunst, die muss voranschreiten und sagen: Es gibt was Neues, wir müssen vertrauen und das Neue möglich machen. Wie dann der Tag nach der Machtergreifung Kunst stattfindet, weiß ich natürlich nicht.

RS: [lacht]

Atelier MeeseJM: Ich denke, dass wir alle denken: Warum nicht immer schon so? Ich denke, wir gucken uns dann an und denken: Man, ohne Politik – geht doch! Es ist ja immer so: Wenn man plötzlich mit dem Auto fahren kann – früher dachte man, man kann keine Autos entwickeln. Oder man kann nicht fliegen. In dem Moment, wo man geflogen ist, sagt man: Ging doch, ne?

RS: „Ich setze auf das Pferd. Das Automobil halte ich nur für eine vorübergehende Erscheinung.“

JM: Ja, genau, absolut.

RS: Hat Wilhelm II gesagt.

JM: Ist doch Wahnsinn, oder? Genau. Oder Leute, die gesagt haben: Fahrradfahren ist ungesund. Ja, kann ja alles sein, hat sich aber trotzdem durchgesetzt.

RS: [lacht]

JM: Oder bei allen neuen Errungenschaften: Elektrizität – nee, das geht nicht. Äh, telefonieren, nein, das kann man alles nicht. Man hat immer mit diesen Leuten zu tun, die immer sagen: Nee, geht nicht, kann man nicht, war doch immer schon anders, wollen wir nicht, ist ungesund, ist böse. Und du sagst: Nein. Vieles von dem, was wir gerade entwickeln im Kopf, vieles davon wird verhungern, beziehung... also jetzt auch nicht funktionieren und dann eben nicht gemacht. Aber Computer, wer hat vor 30 Jahren noch davon gesprochen, dass es Computerisierung geben würde, auf dieser Ebene? Da wurdest du doch ausgelacht.

RS: Also: mutig, fröhlich, optimistisch und mit Spaß.

JM: Risikobereit, mit Spaß. Einiges wird nicht funktionieren. Aber das macht doch nichts. Ausprobieren, überprüfen... Ich war jetzt gerade auf der Ars Electronica in Linz, ich fand’s super geil. Ich bin ja eigentlich gar nicht so ein Gruppentyp und auch so Präsentationen von allen möglichen Dingen, aber da waren junge Leute, die haben mit Technik und Kunst etwas versucht – und ich fand’s hinreißend.

RS: Wir wollen ja auch ein bisschen positive Entwicklung sehen, oder?

JM: Es gibt Leute, die wollen eine Monarchie zurückhaben. Aber Ludwig XIV gab’s doch schon, den Höhepunkt der Monarchie, oder Ludwig II von Bayern. Wie will man das denn noch toppen? Ich weiß nicht, wie das gehen soll. Den kann noch nicht mal mehr ein Comic toppen. Das ist so genial umgesetzt: Monarchie. In Paris und Umgebung, besser geht’s nicht. Auch alles andere, Kommunismus und so weiter, wurde ja auch umgesetzt – ob nun gut oder schlecht, ist mir egal. Nur einen Abklatsch von etwas, was man schon erlebt hat, sollte man auf die Bühne bringen, aber nicht in die Realität, weil das gab’s ja schon.

RS: Ich komm noch mal zum Regieren zurück: Die Kunst soll regieren. Aber die Kunst ist ein Erzeugnis des Menschen. Findet sich hier der erweiterte Kunstbegriff eines Beuys, der in seiner – meiner Ansicht nach vielfach missverstandenen – Theorie Jeder Mensch ist ein Künstlerwurzelt, wieder?

JM: Er hat viele kluge Sachen gesagt, die dann aber auch missbraucht wurden beziehungsweise auch nicht präzise genug waren. Und vielleicht auch von mir missverstanden werden. Man darf sich niemals der Politik unterjochen oder unterordnen. Also ich dürfte niemals eine Partei gründen oder mich einer Partei unterordnen, das geht nicht in der Kunst. Da hat Beuys meiner Meinung nach sehr große Fehler gemacht. Aber er wurde wahrscheinlich überredet. Es ist vielleicht auch anders gemeint, nicht? Man darf sich nicht institutionalisieren lassen, und der Grat ist sehr, sehr nah, wenn man sich eben einer Partei andient.

RS: Aber es gab ja keinen Beuys vor Beuys, deswegen kann man ihm das vielleicht gar nicht vorwerfen, oder?

JM: Ja, aber mit den Grünen... das macht eigentlich ein Künstler nicht. Ein Künstler erkennt, dass die Kunst über der Politik steht. Also das weiß ein Künstler. Die Kunst überlebt ja, nicht die Politik.

RS: Ja.

JM: Nicht die Politik Ludwig XIV hat überlebt, sondern die Kunst.

RS: Ja.

JM: Von Richard Wagner hat nicht die Politik überlebt und auch nicht die Religion, sondern die Kunst. Vom alten Pharao hat nur die Kunst überlebt, nicht der Typ, nicht die Religion und auch nicht seine Politik. Und wir gehen in die Pyramiden und gucken sie uns als Kunstwerke an. Das muss man doch mal begreifen. Ludwig II von Bayern ist tot, aber die Gebäude leben.

RS: Ja.

JM: Und wir lieben die Gebäude und warum ist die Kunst so viel stärker, was hat die Kunst, was die Politik nicht hat? Solche Überlegungen muss man anstellen. Oder was ist der Unterschied zwischen Kunst und Religion? Oder Kunst und Kultur. Das wird immer alles in einen Sack geschmissen. Kunst ist das, was kommt, Kultur ist das, was war.

RS: Hm [lacht].

JM: Also man kann ja mit Kultur gut umgehen in Museen, aber man braucht nicht zu glauben, dass daraus was ableitbar ist, weil die Zukunft ist wie ein Meteor. Die wird alles durchmischen. Die Zukunft kann ratz-fatz einen Staat zertrümmern. Die DDR ist abgewickelt worden innerhalb von einer Nacht.

RS: Ja.

JM: Alles, was heute politisch, religiös ganz fest erscheint, kann morgen z.B. durch einen Vulkanausbruch verschwinden. Was ist von Pompeji übriggeblieben? Die Kunst. Die Gebäude und diese versteinerten Figuren.

RS: Bist du mal da gewesen?

JM: Leider nicht. Ich wollte es.

RS: Also ich bin nur in Herculaneum gewesen, das ist ja daneben, der Ort, der das gleiche Schicksal erfahren hat. Es ist atemberaubend. Wir sind mit der Bahn aus Neapel an der Küste entlang um den Vesuv herumgefahren. Auf der Rückfahrt ging dahinter rot die Sonne unter, also das war schon ein tolles Erlebnis.

JM: Das ist großartig.

RS: Und du hast diese 2000 Jahre Geschichte in den Straßen von Herculaneum – du guckst da rein und was ist auf den Wandfresken überall drauf? In dem einen Laden gab‘s Tafeln, wo wie in einem Kamasutra-Lexikon. Ich dachte, was ist das denn? Ja ganz klar: Die Sklavinnen, die haben doch alle nicht die Sprache der Bürger, die hier gewohnt haben, verstanden. Die sind da reingegangen in den Laden und haben gesagt: Ich will das da.

JM: Wahnsinnig, toll. Großartig.

RS: Und das ist heute noch wie unberührt, und direkt an der Straße, noch die eingelassenen Suppentöpfe in so einem offenen Tresen, also auch ganz faszinierend zum Thema, wir hätten das alles hier erfunden mit Streetkitchen, Dönerbude und so.

JM: Oder Graffiti. Hatten die alles schon.

RS: Jaja.

JM: Bis zum Exzess betrieben, also da muss man zumindest Respekt zollen. Und viel freier. Heute – machen die Künstler eine Selbstzensur und ertragen noch nicht mal mehr ein sexuelles Graffiti. Das ertragen die meisten Künstlerkollegen von mir nicht mehr und sagen: Das ist ja menschenverachtend, das ist frauenverachtend, das ist männerverachtend. Nein, das ist ein Graffiti.

RS: Jonathan, deine Kunst ist laut, deine Kunst lebt auf Papier, Leinwand, im Raum, als Installation, als – wie wir eben gesagt haben – auch sehr stark im graphischen, im zeichnerischen Prozess, skulptural. Inwieweit spielt das Gestische oder auch der Performance-Gedanke für dich im Erschaffen der Werke eine Rolle? Also ich meine nicht, wenn die Performance auf der Bühne stattfindet, sondern, wieweit ist das für dich, wenn du alleine mit einem Werk im Prozess, im Entstehen, im Atelier bist, ein Faktor?

JM: E ist totale Hingabe. Ich geb‘ mich dieser Sache hin und versuche, dem gerecht zu werden. Dem Pinsel, der Farbe, der Leinwand, dem Raum. Ich versuche, das irgendwie hermetisch zu klären. Also das sieht aus meistens wie ein Tanz und das geht von einer Sache zur nächsten, das wird total mit Liebe gemacht. Und ich lach‘ die ganze Zeit auch. Oder ich amüsiere mich wahnsinnig beim Produzieren dieser Dinge.

RS: Ja

JM: Viele denken ja, da ist kein Humor drin. Ich kann das gar nicht... für mich ist das alles ganz große Humoreske, aber auch mit großem Tiefgang. Hier steht „Donnerbalken Jäh“[1], ich meine, darüber kann man sich streiten, aber das müssen wir alle machen und das ist sozusagen eine Erhöhung und Vertiefung dessen, worum es geht. Und das ist ein Liebespaar, aber auch der König muss auf Klo gehen. Und das sind für mich alles wichtige Dinge, das wird alles irgendwie vergessen. Und die Frage ist, wie man mit den Dingen umgeht. Mit Liebe. Und am besten dann doch alleine, es stört mich nicht, wenn mir jemand zuguckt, aber alleine kann man nochintensiver mit den Sachen arbeiten.

RS: Bist du dann irgendwie unter musikalischer Begleitung?

JM: Ja, ich bin ein alter 80er [lacht], ich liebe die 80er, ich liebe Neue Deutsche Welle...

RS: Also auch den 80er-Pop...?

JM: Alles. Ich liebe alles, was es gibt, auch Wagner, Marschmusik, ABBA, Beatles, Depeche Mode, aber auch Hörspiele, Drei???, John Sinclair, Perry Rhodan, TKKG, dann die ganze Europa-Serie, Schatzinsel, Graf von Monte Christo... Ich bin da total so ein Wiederholungsfanatiker.

RS: Ist das Bild anders, wenn du John Sinclair hörst, als wenn du Wagner hörst?

JM: Nein. Das ist das Gleiche.

RS: Also wirkt das nicht auf dein Werk?

JM: Es könnte nur sein, dass ein Wort plötzlich fällt in irgendeinem John-Sinclair-Hörspiel, das ich dann sofort auf die Leinwand schreibe. Aber das würde ich bei Richard Wagner genauso machen. Ich höre das ja auch, um irgendwas zu filtern. Da kommt irgendein Gedanke, wenn du Odysseus hörst, die Sirenen – dann malst du die Sirene. Oder... Penelope, dann machst du daraus Pupsinope oder irgendwas. Oder Richard Wagner ist dann Richard Daddy. Oder äh... Richard Wagnerz oder Richard Wagnerzardos. Oder der Parsifal-Odysseus, Skylla als Scylarry, das ist natürlich Odysseus. Skylla und Charybdis.

RS: Ach, da ist derParsifal-Odysseus her.

JM: Das ist wahrscheinlich entstanden, als ich gerade Parsifal gehört habe. Conan, der Meese, da hab ich gerade den Conanwieder gesehen im Fernsehen, ein großartiger Film, also wirklich ein...

RS: Aber ist das, wo der Schwarzenegger, glaube ich, so ungefähr drei Sätze spricht?

JM: So ungefähr. Also wenig, aber alles präzise und auf den Punkt gebracht. Und ist zwar als Trash-Film gemacht worden, ist aber einer der größten Filme aller Zeiten. Ganz präzise und mit Liebe ist das gemacht, die Kostüme, alles.

RS: Und mit der ausgeprägtesten Muskelästhetik, die er je zu bieten hatte.

JM: Ganz genau, da ist es auch wieder: Die Muckibude.

RS: [lacht]

JM: Also, man findet das ja auch: Der Frosch mit der Maske. Das ist natürlich Edgar Wallace.

RS: Ja.

JM: Das ist hier wahrscheinlich Snoopy. Dr. Octanist der Gott des Oktans, also... Benzin. Kunst im Weltenraum, Babyanimalismus, Revolution, Kunst ist der Gewaltenakt, Kunst ist immer totalst rufschädigenst, Odysseus-Parsifal,Richard Daddy, Space-Mandy, da hab ich wahrscheinlich Mandygehört, von...

RS: Barry Manilow.

JM: Genau. Ich liebe das, das ist so geil, das Lied, dass man es kaum erträgt.

RS: Deine Kunst kann man als „nach deinem Drehbuch inszenierte Spontaneität“ beschreiben, würde ich mal so empfinden.

JM: Ja?

RS: Fiel es dir leicht, für Mutter und Sohn = Realität trifft Kunstdie Regie anderen zu überlassen?

JM: Ja. Das fällt mir immer leichter, weil dann kann ich sozusagen meine Arbeit machen. Ich liebe ja Profis. Und da sind wir in eine Sache hineingeraten, von der wir nicht den blassesten Schimmer hatten, Mami und ich. Uns wurde das angetragen: Habt ihr Lust auf VR – wir wussten gar nicht was VR ist. Virtual Reality– aha, oh. Habt ihr dazu Lust, einen Raum zu machen und mit den Brillen, ja machen wir. Und dann wurden wir angeleitet und haben uns da in dieses Abenteuer gestürzt. Meine Mutter musste eigentlich viel mehr machen als ich.

RS: Warum?

JM: Ich musste nur einen Take nehmen, ich musste nur einmal sozusagen meine Sache machen.

RS: Ach so, und sie sieben oder acht Mal.

JM: Sie sieben oder acht Mal, und zwar eingebaut in einem Grünen Raum, da ist noch eine Leinwand, die davon übrig geblieben ist, weil das alles hier im Atelier aufgebaut war. Und dann musste sie sozusagen präzisest durch diesen Raum durch, mal ein Ein-Minuten-Take, mal ein Vier-Minuten-[Take], und durfte nicht irgendwie falsch gehen, sie durfte nicht falsch gucken, sie musste das Richtige sagen, weil das ja eingebaut werden musste.

RS: Klar.

JM: Sie durfte ja nicht durch die Mutter 3 laufen. Diese Kamera ist ja in der Mitte des Raumes und du darfst auch nicht zu nah an die Kamera ran, du darfst auch nicht zu weit weg. Meine Mutter hat das stoisch durchgezogen. Mit 88.

RS: Super.

JM: Das sind ja Denkaufgaben, das ist Denksport.

RS: Hm.

JM: Ich bin ja auch kein Sportler, ich bin nur Denksportler. Ich denke und ich hoffe... ich denk ja immer schon, beim Duschen verlier ich Gewicht [lacht].

RS: [lacht]

JM: Aber das klappt noch nicht so richtig, beim Einseifen oder so. Ich bin halt kein... ich bin ja viel zu dick geworden, aber macht nix. Ich ess‘ und trink‘ halt gern und ansonsten mach ich eben keinen Sport.

RS: [lacht] Du hast gesagt, du tanzt beim Malen, also das ist auch Sport.

JM: Ja, genau.

RS: Die Totale Installationist eine wichtige Facette deines Werkes. Funktioniert sie nur in sich, alsGanzes, oder hat jedes Einzelstück an sich darin auch den Anspruch, Kunst zu sein? Also ich denke zum Beispiel an die Totale Installationin den Deichtorhallen. Ist das dann wirklich die Summe aller Teilchen oder muss jedes Teil für sich selber auch perfekt funktionieren?

JM: Jedes Teil muss ohne Ideologie sein, dann funktioniert’s. Wenn da auch nur eine ideologische Kröte drinsitzt, dann könnte das gefährlich werden. Dann kommt es zumindest innerhalb dieser Installation zu einem Kampf. Es geht auch hier nicht um Mehrheit oder Minderheit. Es geht nicht um Masse. Sondern diese eine Kröte kann das Ding gefährden. Aber bei mir war so eine Kröte noch nie vorhanden, also zumindest nicht in den Installationen. Ich hab falsche Menschen kennengelernt, das muss ich zugeben, ich hab auf falsche Leute gesetzt, aber in der Kunst, also in den Gegenständen gibt’s ja keine Probleme. Außer du baust es instrumentalisierend auf, also es gibt Künstler, die lassen sich ja vor politische oder religiöse Karren spannen...

RS: Ja.

JM: Und dann wird’s übel. Aber dafür können die Gegenstände nichts.

RS: Du bist jetzt von der Kunst über die „Abwesenheit von Ideologie“-Definition wieder eingestiegen. Mir geht es bei der Frage auch darum, ob das Einzelne... also ich erinnere mich an die Deichtorhallen so, dass es eine Materialschlacht war, im positivsten Sinne, weil der Raum hat für sich eingenommen und du konntest unterschiedliche Ebenen, unterschiedliche Perspektiven, unterschiedliche Sichtwinkel bespielen und es lebte sehr stark auch von der Quantität. Aber meine Frage ist dabei: Ist für dich auch jede kleine Zeichnung, jedes kleine Teil, wenn jemand es rausnimmt und aufhebt, dann ein Werk oder ist es ein Teil eines Ganzen? Muss es als einzelnes Teil immer funktionieren?

JM: Für mich persönlich – ich spreche nur über mich – ist es ein Werk. Aber es ist sehr schwer handhabbar. Genauso ist für mich jede Zeichnung von jedem Kind Kunst. Aber da müsste man ja riesige Museen bauen. Und das wäre dann wieder das Gesamtkunstwerk, wenn man erkennt, dass eine Stadt ein Museum sein kann, oder ein Land, oder Europa, oder die Welt. Dann ist die Zeichnung, die ein Kind macht, oder das Butterbrot, was es isst, Kunst. Wir müssen ein ganz anderes Verständnis dafür haben. Im Moment haben wir diese Kapazitäten noch nicht oder denken noch nicht in diesen Kapazitäten. Die Frage ist natürlich sehr berechtigt. Aber die meisten Menschen sagen: Das kannja nicht alles Kunst sein, weil wir das ja gar nicht verarbeiten können. Aber auch hier in diesem Raum ist jedes Buch, was da steht, Kunst. Also jeder Bleistift, jeder Pinsel ist Kunst, ich muss ihn noch nicht mal signieren. Aber wir müssen ein anderes Verständnis dafür haben. Noch ist es sehr schwer handhabbar, aber wir werden eine Lösung finden dafür. Es ist eine komplett berechtigte Frage, weil auch damals, speziell an der Kunsthochschule – ich hab damals diese Riesenwände gemalt – und jetzt holen wir aus diesen Wänden die einzelnen Sachen raus. Damals, als ich es machte, habe ich das für nichts Besonderes gehalten. Ich hab es einfach gemacht als Teil einer riesigen Installation. Jetzt holt man die Sachen raus und sieht: Das ist ja an sich schon geil. Aber wie weit geht man da und sagt, dass die Cola-Flasche, die da reingestellt wurde, Kunst ist - ich sage: Ja. Ich hab damals auch in meinen Installationen einfach Filme ablaufen lassen von anderen. Und damit hat man ja den Film schon geadelt als Kunst. Und der Fernseher war es auch. Aber es ist die Frage, kann man es ertragen? Kann man den Gedanken ertragen, und welche Konsequenz ziehe ich aus dem Gedanken?

RS: Jean Dubuffet konnte ihn auch ertragen.

JM: Ja.

RS: Er ist da vielleicht auch viel früher viel weiter gegangen. Du hast das mit den Kindern gesagt. Er ist damals in die – wie sie zu der Zeit hießen – Irrenanstalten gegangen und meinte: Das ist die besondere Qualität, weil diese anderen Menschen das bewahrt haben, was das Kind in sich trägt.

JM: Das ist auch eine Möglichkeit. Ich würde sagen: Ein erwachsener, ideologischer Mensch schafft es – leider– nicht, Kunst zu machen. Es ist eigentlich unmöglich, keine Kunst zu machen, aber der einzige Mensch oder das einzige Wesen auf diesem Planeten, was keine Kunst macht, ist der erwachsene, durchideologisierte Geist. Jedes Tier macht nurKunst, also was anderes können die gar nicht, weil sie keine Ideologien hervorbringen, weil sie keine Parlamente, keine Religionen, keine Politiken haben und auch keine wählbaren Machtkonstellationen. Die sind eigentlich alle zukünftig, es ist ein zukünftiger Aspekt in ihnen. Und nur der erwachsene Mensch, der entschieden hat, ideologisch zu werden – das macht ja auch kein Kind. Also man kann kein Kind zu einer Ideologie zwingen.

RS: Ja.

JM: Das kann ich. Aber das ist ja nicht verinnerlicht oder veräußerlicht, das ist ja gar nicht da. Das ist denen antrainiert. Und irgendwann mal kommt das Kind dann in ein Alter, wo es dann sagt: Oh, ich muss jetzt ideologisch werden. Ich kann ohne Ideologie nicht mehr leben. Aber – hier hat man ein lebendes Beispiel – ich kann.

RS: [lacht]

JM: Und viele Menschen, die ich kenne, können das auch. Die sind 90 und haben keine Ideologie im Leib oder am Leib. Auch Picasso hat keine gehabt. Der hat sich bis zum Schluss radikalisiert und dann auch noch mal richtig losgelegt.

RS: Du warst vorher bei den Tieren, deswegen komme ich noch mal natürlich auf eine wichtige Parteigründung – die Partei für Tiere?

JM: Ja.

RS: Das, was du eingangs schon gesagt hast, fand ich auch einen sehr spannenden Ansatz: Das Tier – wie der Mensch im Schlaf – könne nicht böse sein.

JM: Ja.

RS: Oder du hast gesagt: Können nicht ideologisch sein. Daraus schließe ich, sie können eigentlich auch nicht böse sein.

JM: Richtig.

RS: Das heißt, für mich war da immer der Subtext: Die Partei für Tiere ist insofern komplett gut.

JM: Da muss man aber ganz klar fragen: Hast du das Tier gefragt, ob es eine Partei haben will? Und da muss man leider sagen, also bisher hat es noch kein Tier gegeben, was eine Partei gegründet hätte. Das ist also auch wieder ein Aufstülpen! Also, frag mal die Freiheit, was Freiheit ist.

RS: Du meinst, die könnte das anders sehen als wir?

JM: Ja. Also die Tiere würden wahrscheinlich sagen: Nee, Parteien sind uns unbekannt, wollen wir auch gar nicht drin sein. Das ist wieder ein Menschenblick auf die Tiere. Oder was ist die Sonne? Was würde die Sonne sagen, wenn man sie fragen würde: Was ist Freiheit? Dann würde sie wahrscheinlich sagen: sich auszudehnen und immer heißer zu werden. Also menschenfreundlich ist das nicht. Weil dann können wir nicht leben, aber das ist eben die Sonne. Die Sonne ist ein Diktator, sie ist ein Monopolist. Sie denkt gar nicht an uns. Ein Haifisch ist doch nicht böse, weil er mich auffrisst, sondern er tut das, was er tut.

RS: Weder dem Haifisch noch der Sonne hat auch einer den Kategorischen Imperativ erklärt und ihnen gesagt, wo ihre Grenzen sind, damit sie uns nicht in unserer Freiheit einschränken.

JM: Eben. Aber es gibt wahrscheinlich Menschen, die wollen Haifische vermenschlichen. Also in Form von Stofftieren finde ich das sehr in Ordnung, oder in Form von Der Weiße Haiund so. Aber doch nicht in der Realität. Es gibt glaube ich Menschen, die wollen schon Babys zur Wahlurne bringen.

RS: Ja.

JM: Aber das funktioniert alles nicht. Aber vielleicht irgendwann. Genauso funktioniert’s wahrscheinlich irgendwann mal, den Menschen vom Schlaf abzukoppeln. Und was passiert dann? Ich würde eher... also ein großer Traum von mir ist ja, wie man mit Verdauung umgeht in 1000 Jahren. Ob es das dann noch gibt? Weil das ja das Leben komplett verändern würde.

RS: Ja.

JM: Wenn der Mensch nicht mehr verdauen müsste.


RS: Ich war auf der Manifesta in Zürich vor zwei Jahren, die Christian Jankowski kuratiert hat. Ich hab leider nicht den Namen des Künstlers mehr drauf, aber vielleicht entsinnst du das: Dort ist eine Maschine entwickelt worden, die [lacht] selbst aus sich heraus Kot produziert hat.

JM: Ja. Finde ich eine tolle Idee, muss man weiterverfolgen [lacht] Jetzt muss man natürlich überlegen: Wie schafft man es, den Kot so wohlriechend zu machen, dass man damit nicht mehr problematisiert. Also Kinder zum Beispiel haben ja kein Problem mit dem Kot.

RS: Ja.

JM: Also das wird ja auch uns sozusagen antrainiert, dass es ein Problem gibt. Wahrscheinlich natürlich, weil es auch bakteriell zu gefährlich ist. Was kann man da machen? Ludwig XIV, da gab es noch keine Toiletten. Wahnsinnig, eine unfassbare Vorstellung für uns heute.

RS: Ja.

JM: Alles wird wegparfümiert. Oder der Geruchssinn ist nicht vorhanden. Heute würden wir zusammenbrechen.

RS: Ja.

JM: Der Staat würde zusammenbrechen. Donnerbalken.

RS: Jonathan, deine Mama war hier, wo ich mich sehr drüber gefreut habe. Sie hat, glaube ich, irgendwie eine Multifunktion als PR-Managerin, als Kunstfigur, als deine Mutter natürlich. Aber welche Rolle spielt sie für dich in der Entwicklung, in der Entstehung neuer Werke?

JM: [überlegt] Sie ist die letzte Instanz für mich. Also die letzte lebende Instanz.

RS: Richterin.

JM: Ja. Muss ich sagen.

RS: Über dein Werk.

JM: Ja, die letzte lebende Instanz, also danach ist es nur noch die Kunst, die dann richtet, oder die Zeit. Aber ich hätte ein großes Problem, wenn meine Mutter sagen würde: Ist alles scheiße. Also das sagt sie vielleicht manchmal, so als Witz.

RS: [lacht]

JM: Aber sie erkennt ja, dass da Liebe drinsteckt. Aber auch alle, die mit mir arbeiten, auch meine Freundin, die haben ein großes Wort mitzusprechen, und denen vertraue ich total. Es gibt ja auch Verteilungen, was die jeweiligen Leute alle machen, und meine Mutter ist der Klebstoff, also Konrads Spezialkleber wie aus Pippi Langstrumpf, das ist meine Mutter.Sie ist sozusagen das Bindeglied zwischen all den Dingen.

RS: Aber das Wichtigste in deinem Werk ist die Liebe.

JM: Ist die Liebe, 100-prozentig, die Liebe zur Kunst, die Liebe zu Künstlern, die Liebe zu meinen Freunden und auch die Liebe zu Gegenständen.

RS: [lacht]

JM: Und das ist total wichtig, man muss das ja lieben, man muss den Pinsel lieben, um ihn benutzen zu können. Also wenn ich den verachte, warum mache ich das? Es gibt leider viel zu viele Menschen, die auch ihren Beruf verachten oder das gar nicht lieben, was sie tun. Und vielleicht auch dazu gebracht werden, das nicht zu lieben, beziehungsweise, da hineingestoßen werden. Und dann kann’s nichts werden. Also, ich gehe immer davon aus, dass jeder, das, was er tut, liebt. Immer. Wenn ich in einen Bus einsteige, denke ich: Der Busfahrer liebt das, was er tut.

RS: Optimalerweise ist es so.

JM: Ganz oft ist es ja so. Die sind begeistert – ich liebe Busfahrer, ich bin ständig im Bus. In Ahrensburg kenne ich jeden Busfahrer. Ja, ich bin auch so begeistert von denen. Ich bin auch ein unfassbarer Restaurant-Geher. Ich gehe jeden Abend ins Restaurant.

RS: Ja.

JM: Und ich liebe es, wenn die Köche mir das Geilste auf den Tisch bringen. Und deshalb bin ich auch so dick. Ich liebe es, guten Wein hingestellt zu bekommen, ich bin ein total sinnlicher Typ. Auch Leute, die hier die Regale aufbauen. Ich denke immer: Wie geil ist das gemacht! Aber das müssen die Leute natürlich auch lieben. Es kann jeder Beruf sein.

RS: Ich bin so schlecht bei Zitaten und deshalb vergesse ich auch manchmal, von wem es ist, aber mir hat unheimlich gut dazu gefallen: Wenn du liebst, was du machst, brauchst du nie wieder im Leben zu arbeiten. Das setzt allerdings voraus, dass man Arbeiten als solches mit einer negativen Konnotation versteht, was man ja auch nicht muss. Man kann ja auch sagen, dass Arbeit halt grundsätzlich was Tolles ist, weil sie uns eine Aufgabe und einen Sinn gibt.

JM: Absolut. Und da ist meine Mutter ein bestes Beispiel. Also wenn man ihr die Arbeit entzieht, ist sie morgen tot. Weil sie muss einfach arbeiten bis zum letzten Atemzug. Sie steht jeden Tag um fünf Uhr morgens auf, geht wie ein Roboter ihren Weg und macht alles mit Liebe: Sie redet mit den Schustern, mit den Leuten auf der Straße, sie möchte nicht von einem Automaten bedient werden. Ich will übrigens von Automaten bedient werden.

RS: [lacht]

JM: Nicht immer, aber oft. Ich mag das auch, ich hab überhaupt keine Probleme. Aber Mami liebt alles Persönliche. Dieses Dahingehen, junge Leute kennenlernen, und so, wie man in den Wald hinein ruft, so schallt es heraus. Ich muss diese alten Leute doch auch fordern. Ich muss sagen: Hey, Entschuldigung, du bist 70 Jahre alt, mach was. Du hast eine Aufgabe, und wenn du deinen Kindern geile Märchen vorliest. Oder wenn du einfach spazieren gehst, oder wenn du freundlich bist. Das ist doch schon eine ganz große Tätigkeit, freundlich mit deinen Nachbarn zu sein. Dafür müsstest du schon bezahlt werden. Wir werden ja immer unfreundlicher unseren Nachbarn gegenüber, das geht doch nicht. Wir sind gerade wieder in Zeiten, wo jeder meint, jedem sagen zu müssen, was er darf und was er nicht darf.

RS: Ja.

JM: Und meistens sind das Kleinigkeiten. [andere Stimme:] Ah... mein Zaun... dein Zaun ist zwei Millimeter zu hoch! Oder so. Und daraus werden riesige Fehden gemacht. Nein, wir müssen uns mal wieder am Zaum halten und wieder liebevoller miteinander umgehen. Jeder kann seinen Beitrag leisten, ist doch gar kein Problem. Und meine Mutter ist das beste Beispiel. Und das ist fast ein Einzelfall und sollte aber kein Einzelfall bleiben. Weil so viele alte Leute doch noch so viel drauf haben.

RS: Also die schlimmste Folter, die du an einem Menschen begehen kannst, ist, ihm seine Aufgaben zu entziehen.

JM: Ja.

RS: Ihn nutzlos zu machen, und deswegen ist das ein sehr schönes Wort von dir, wenn du sagst: Die Liebe an sich ist schon eine Aufgabe. Und daraus kannst du ja mehr produzieren.

JM: Natürlich. Und das ist schon bezahlbar. Also Liebe zu bezahlen, das ist einfach wichtig, das ist keine Rente mehr...

RS: [lacht] Ja.

JM: Sondern das ist eine Bezahlung. Ich bezahle meine Mutter übrigens auch, ganz konkret bezahle ich sie für das, was sie tut. Und Menschen werden nicht richtig bezahlt. Ich bin gar kein Geld-Fetischist, das kann man auch irgendwann mal abschaffen. Auch reich und arm ist nicht das größte Problem. Es sind die tiefergehenden Probleme, das ist Neid, Missgunst, Hass, Kleinkariertheit, Zukunftsangst, Angst überhaupt. Angst ist das allergrößte Problem. Ein Angst-Raum wird nur Mitläufer produzieren. Und die brauchen wir nun wirklich überhaupt nicht. Die hat man zu keiner Zeit gebraucht. Also Leute, die einfach wie so Lemminge und wie so Schafe – Schafe und Lemminge sind tolle Wesen – aber sozusagen als Sinnbild einfach irgendeiner Sache hinterherlaufen und in die Katastrophe hinein, das haben wir schon millionenfach erlebt, da kann man doch lernen. Und das Tolle ist: In der Kunst wird ja ständig gelernt.

RS: Ja.

JM: Man macht Fehler und dann lernt man und macht noch größere Fehler, aber man macht nie den selben. Politik und Religion macht immer denselbenFehler.

RS: Gibt es eins von den vielen Bildern, die wir da drüben sehen, in dem ein Fehler ist, aus dem du gelernt hast?

JM: Nein, in den Bildern ist kein Fehler. Also da gibt es keine, nein. Also das ist eher der Umgang damit.  Oder das Umfeld. Dort passieren Fehler. Aber in der Sache selber, das geht nicht. Also wenn man mit Liebe ein Bild malt, kann das ja nicht schlecht sein. Das ist unmöglich.

RS: [lacht]

JM: Außer, wenn ich einen Hintergedanken habe: Oh, ich will der und der Klientel gefallen, und, wenn solche Sachen kommen: Oh, was sagt mein Nachbar dazu oder was sagt mein Freund zu dem Bild oder meine Freundin? Oder: Oh, meine Gruppe, die wird das ablehnen. Ja, dann missbrauchst du das Bild, das du gerade malst.

RS: Ja.

JM: Also wenn solche Gedanken aufflackern: Könnte das vielleicht zu radikal sein, ist das vielleicht zu schmutzig, oh, bin ich gerade da zu pornografisch oder bin ich nicht pornografisch genug. Aber sowas kommt bei mir nie. Ich male das – fertig. Ob das jemandem gefällt, ist mir vollkommen schnurz. Das war mir immer egal, ist so.

RS: Ist ja auch hilfreich und wahrscheinlich sogar die Grundvoraussetzung, Kunst schaffen zu können.

JM: Absolut. Wie Franz Erhard Walther, das sieht man ja auch bei dem: Der hat den Motor angeworfen und der Motor läuft und läuft und läuft und läuft.

RS: Naja, er sagt in jedem Gespräch: Ich bin jetzt 79, ich musste damals in die USA gehen, weil man in Westeuropa für meine Kunst noch nicht weit genug war. Mich hat keiner verstanden, meine einzige Möglichkeit, meine Kunst weiter entwickeln und auch in ihr eine wirtschaftliche Basis zu finden, um existieren zu können, war in den USA. Und das ist dann die Konsequenz.

JM: Richtig, das ist konsequentionales Leben.

RS: Du kannst es nur dann in der Radikalität beantworten, wenn du dich nicht selber irgendwie zurücknehmen oder dich im schlimmsten Fall verleugnen willst?

JM: Und da muss man eben sagen, da ist das Umfeld der Fehler gewesen.

RS: Ja.

JM: Der Fehler war nicht in dem Werk von Franz Erhard Walther, weil das... da sind auch Fehler drin, wie bei Meese, überall, aber die haben nichts mit den Werken zu tun, das sind Dinge, die man selber macht. Aber man muss die Konsequenz ziehen, er musste halt bestimmte Sachen regeln und sich verhalten, um weiterkommen zu können. Sonst wirst du ja... wird dir ja ständig der Motor abgedreht. Und das hältst du auf Dauer nicht durch. Mir wurde der Motor auch ganz oft abgedreht, als ich gerade dabei war, mich so richtig schön zu radikalisieren. Dann kamen plötzlich die Bedenkenträger, und, wenn du so hoch energetisch bist und dann dir gesagt wird, stopp! Nicht, wie in Bayreuth, stopp! Und du bist gerade dabei, den Weltrekord zu laufen, und dann sagt jemand stopp, weil du das falsche T-Shirt anhast.

RS: [lacht]

JM: Aber Franz Erhard Walther war eine richtig wichtige Figur für mich und ist es auch noch. Ich hab ja immer tolle Lehrer gehabt, in der Grundklasse: Spitze. Alle Lehrer, die ich besucht hab, waren geil...

RS: Ja.

JM: Aber wie man in den Wald hineinruft, so schallt es heraus.

RS: Also das merkt man ja auch bei euch beiden, also dieser Auftritt im Hamburger Rathaus in diesem ehrwürdigen alten Saal, das war ja nun legendär. Das war wirklich toll, euch beide da zu sehen, es hat mir große Freude bereitet.

JM: Danke.

RS: Ich glaube, es ist eine Art Zuneigung, die bei euch auf Gegenseitigkeit beruht?

JM: Absolut, er hat mich in Ruhe gelassen und ich ihn auch, wir haben fast nur über Essen und tolle Weine gesprochen, weil er mir sonst nichts zu erzählen hatte. Also hab ich immer zugehört, wenn er über Kunstgeschichte geredet hat, aber wenn es um meine Sachen ging, hat er immer nur gesagt: Hey, weitermachen!

RS: Ja, super.

JM: Das war das Einzige, er hat nie irgendwas kritisiert, er hat nie irgendwie gesagt, es geht nicht. Er hat immer gesagt: Ah, super, mach weiter! Das war immer seine Haltung. Aber der hat auch Leute fertig gemacht, aber das waren so Zitteraale, die das, was sie selber machten, überhaupt nicht mochten. Oder selbst so zweifelnd waren... also zweifeln kann man ja an der Realität, aber doch nicht an der Kunst, das geht ja nicht.

RS: [lacht] Du hast gesagt: Ich fliege nicht mehr. Ahrensburg – Basel – Berlin – Tokyo... Der internationale Kunstzirkus ist aber nun mal international. Wie händelst du das mit deiner Mobilität?

JM: Picasso kann auch nicht mehr reisen, aber die Kunst reist. Die Kunst ist immer unterwegs. Und das ist bei Balthus so, das ist bei Van Gogh so und das ist bei Meese auch so. Überall, wo ich noch mit dem Schiff hinkommen kann, geh ich hin, und ansonsten hält man sich zurück, die Sachen sollen ja raus. Es soll ja auch nicht immer nur um den Meese gehen, sondern um das, was der Meese eben an sich hat abspielen lassen. Es ist auch ganz schön, mal irgendwo hinzufahren, ich hab aber auch viele Reisen gemacht: Ich war in China, ich war in Japan, ich war in Amerika, mehrfach alles. Ich hab ja alles abgeklappert. Aber ich muss auch entschleunigen, weil ich sonst aufgefressen werde wie der Typ im Parfum. Also ich kann mich sozusagen nicht überall verbrauchen.

RS: Also kannst du Mobilität auch delegieren?

JM: Muss.

RS: An dein Werk.

JM: Muss. An mein Werk und an die Leute, die das dann betreuen. Und das sind doch alles Profis. Und viele Menschen lieben Reisen. Auch Freunde von mir und die können das doch begleiten. Und die Leute in Südamerika, die das eventuell irgendwann mal ausstellen, die können doch damit umgehen. Natürlich ist es immer schön, den Künstler auch dabei zu haben, das muss aber nicht immer sein. Es lenkt auch oft ab. Ich mag auch Sammler nicht, die mir erzählen, wir müssen erstmal den Künstler kennenlernen, um zu sagen, dass wir das Werk geil finden.

RS: Ist ja auch nicht immer hilfreich.

JM: Weil manchmal der Künstler ja auch ein Stinkstiefel oder ein Arschloch ist.

RS: [lacht]

JM: Aber da ist ja das Werk hoffentlich genauso zu bewerten, wie wenn man diese Person nicht kennengelernt hat.

RS: Ja.

JM: Und Caravaggio war ja auch angeblich ein Mörder. Aber...

RS: Ja, einen kleinen Mord hat er... aber vielleicht war es auch eine ganz doofe Situation... [lacht]

JM: Ja, das war Notwehr [lacht]. Zum Beispiel Marcel Proust lag im Bett und hat Kunst gemacht. Der ist auch nicht verreist. Van Gogh war wahrscheinlich niemals in seinem Leben wirklich verreist oder nicht weit weg zumindest. Marquis de Sade hat seine tollsten Schriften im Gefängnis verfasst.

RS: Karl May auch.

JM: Karl May!

RS: Ja. Ja.

JM: Hat Amerika nie betreten, zum Glück. Wahrscheinlich hätte er sonst diese geilen Bücher nicht schreiben können. Also es ist nicht notwendig...

RS: Ja, es ist faszinierend, es passiert viel im Kopf.

JM: Auch der John-Sinclair-Mann, der die schreibt, der... der Jason Dark, also der Rellergerd, den besuche ich übrigens demnächst.

RS: Der Autor von John Sinclair?

JM: Ja. Den besuche ich.

RS: Das ist ja toll.

JM: Den darf ich besuchen, weil ich liebe den über alles, das ist einer der größten Literaten.

RS: Wo lebt der?

JM: Ähm, ist das Bergisch Gladbach? Ich denk‘ so in die Richtung.

RS: Ach wirklich, ich dachte, das ist ein Brite?

JM: Nee, das ist ein Deutscher.

RS: Das ist ja witzig. Toll.

JM: Und den darf ich eben... ich hab ja John Boorman neulich besuchen können, letztes Jahr...

RS: Ja.

JM: Der ist ja einer meiner Lieblingsregisseure. Der hat Excaliburgemacht, Zardoz, Deliverance– ein ganz berühmter Film, wo drei Typen in einem Kahn rumfahren und dann von Verrückten angeschossen werden, mit Burt Reynolds, kann ich nur empfehlen. Also dieser John Boorman hat super Filme gemacht. Der lebt in Irland, in den Wicklow Mountains. Und da hab ich den besuchen dürfen, ein Interview gemacht. Also was der erzählt hat!

RS: [lacht]

JM: Das ist genial. Der ist 83, 84, 85 jetzt, der war gut befreundet mit Stanley Kubrick und so, und ein ganz bescheidener Typ. Aber voll da, körperlich nicht mehr ganz so fit, aber geistig volle Kanne da, wie der da gelebt hat, ich bin zerflossen. Hat ein riesiges Landgut und geht immer schwimmen im Bach und spielt Tennis, ein tolles verwunschenes Haus. Ich durfte das Excalibur-Schwert in der Hand halten.

RS: Wow, cool.

JM: Meine Mutter war mit, das hat das Eis natürlich sofort gebrochen. Wir kamen da mit 10 Mann und er war völlig überfordert.

RS: Ja.

JM: Aber als dann meine Mutter kam, da konnten sie über Japan reden und über Toshiro Mifune und... mit dem er auch gedreht hat, und Zardozist ja mit Seán Connery, mit dem ist er auch befreundet und so und... babababab. Also kann ich nur empfehlen. John Boorman. Und ja, Jason Dark, total genial.

RS: Lieber Jonathan...

JM: Ja, danke.

RS: Ich danke dir für das Gespräch.

JM: Ja, danke gleichfalls [lacht].

Rene S. Spiegelberger führte das Gespräch am 21. September 2018 im Atelier des Künstlers in Berlin. Jonathan Meese wird u.a. vertreten von Galerie  Sies & Höke in Düsseldorf und Galerie Noah in Augsburg.  

 

[1]Nicht sicher, was genau: 28‘33‘‘