Katie und die Koffer

Ateliergespräch mit Christian Jankowski

Gerne stellen wir Ihnen dieses Mal die Arbeit des Konzept- und Aktionskünstlers Christian Jankowski vor. Jankowski ist Professor an der staatlichen Akademie der Bildenden Künste in Stuttgart. Sein Werk wird international viel beachtet und ausgestellt – unter anderem im San Francisco Museum of Modern Art, dem Tokyo Metropolitan Museum of Photography oder der Pinakothek der Moderne in München. Er ist mehrfacher Venedig-Biennale-Teilnehmer sowie Kurator der Manifesta 11. Bei einem Atelierrundgang im Sommer dieses Jahres erläutert er Rene Spiegelberger an exemplarischen Werken seine künstlerische Herangehensweise.

Lieber Christian, danke, dass ich dich in deinem Studio in Berlin bei hochsommerlicher Witterung besuchen darf. Ich freue mich, dass wir an deinen Arbeiten vorbeischlendern dürfen. Dein Werk „Schamkasten“ erinnert mich an Osteuropa in den 70er Jahren, aber das ist es gar nicht, oder?

Nein, das ist Hamburg Altona in den 90er Jahren. Es ist ein Frühwerk, mit dem ich mich an der Kunstakademie beworben habe. Dafür habe ich Leute angesprochen und gebeten, sich hinter einer Schaufensterscheibe mit einem Schild öffentlich zu ihrer Scham zu bekennen. Auf dem Schild stand jeweils der individuelle Schamgrund. Einer schämte sich für seine Triebhaftigkeit, eine Dame für die Lieblosigkeit. Und ein weiterer Herr schämte sich dafür, dass er seine Kinder vernachlässigt hatte.

War das authentisch, oder war bei den Leuten auch Koketterie dabei?

Das war größtenteils authentisch. Einige Leute haben sich für andere geschämt, was der indirekte Weg ist. Ich war überrascht, wie viele sich bereiterklärt haben mitzumachen. Einige der zunächst Zögernden kamen am nächsten Tag wieder, weil sie sich überlegt hatten, dass es doch etwas gab, wofür sie sich schämten. In der Arbeit steckt viel von den Themen, die mich bis heute beschäftigen. Bei mir geht es immer wieder um Rahmenbedingungen, unter denen verschiedene Menschen unterschiedlich reagieren. Ich finde einfach faszienierend, wie unterschiedlich Menschen sind und wie sie auf eine ähnlich gegebene Situation doch sehr individuell und eigen reagieren. Man sieht dann die Möglichkeiten der Zustandsformen und der Perspektiven – von innen und außen ... Und auch hier, durch die Wahl der Schaufensterscheibe, gibt es ein doppeltes Publikum. Man hat einerseits das Publikum der Passanten, die vorbeilaufen oder stehenbleiben. Und auf der anderen Seite stehe ich als Rezipient vor den Fotos. Also gucke ich einem Publikum über die Schulter. In meiner Arbeit arbeite ich oft mit verschiedenen Publikumsgruppen. So strahlt die eigenen Vorstellung, wie möglicherweise ein anderer Mensch darüber denkt, in das Werk hinein und trägt zur Bedeutung bei.

Nutzen wir die Gelegenheit deiner Atelierhängung und schauen uns dein Werk „Künstlerpfade“ an. Was zeichnet diese Arbeit aus?

Das ist eine Serie handgewebter Teppiche. Ich war in Mexiko und habe dort den Besitzer einer Teppichknüpferei kennen gelernt. Wir kamen ins Gespräch, und er sagte: „Wenn du einmal eine Idee für einen Teppich hast, dann lass es mich bitte wissen. Ich würde gerne einen Teppich für dich produzieren.“ Zu dem Zeitpunkt hatte ich mir gerade ein Auto in Mexiko ausgeliehen, um an den Pazifik zu fahren. In dem Mietwagen lag noch eine Wegbeschreibung, die mir zwei Freunde mit auf den Weg gaben. Diese Wegbeschreibung lieferte mir den Impuls; ich gab dem Teppichproduzenten dieses zerknüllte DIN-A4-Blatt. Daraus entstand der erste Teppich dieser Serie. Ich assoziierte fliegende Teppiche, Nomadenteppiche, Fragen der kulturellen Orientierung und dachte an das Gefühl des Zuhauseseins. Als Künstler fühle ich mich selber häufig als Nomade. Vielleicht auch deshalb und ein wenig aus Sentimentalität habe ich seit Jahrzehnten solche Zeichnungen gesammelt, in denen mir Menschen einen Weg erklärt haben. Einige davon übertrug ich in der Folge auf weitere Teppiche.

Magst du den Teppich „Villa Massimo“ einmal für uns dechiffrieren?

Die Wegskizze entstand anlässlich meines Stipendiums in der Villa Massimo. Während ich temporär in Sydney war, wo ich an der Biennale teilnahm und eine Arbeit vorbereitete, sollte mir mein Bruder meine Sachen und mein Auto aus der Villa Massimo abholen. Meine damalige Partnerin zeichnete ihm den Weg vom Flughafen Rom zur Villa Massimo auf. Den Zettel mit der Wegskizze fand ich einen Monat später unterm Fahrersitz. Daraus ist dieser Teppich Villa Massimo entstanden. Auf dem Teppich siehst du den Eingang zur Villa und auch das Atelier, in dem ich damals gearbeitet habe. Und den Hinweis an meinen Bruder, dass er für die Fahrt mit dem Taxi vom Flughafen zur Villa nicht mehr als 50 bis 70 Euro bezahlen dürfe.

Schöne Geschichte! Ich kannte bereits einen anderen Teppich dieser der Serie, aber jetzt gefallen mir die „Künstlerpfade“ noch besser.

Hinter jedem Teppichmotiv steckt eine andere Geschichte. Immer beschreibt sie meinen Lebensweg – das Navigieren zwischen Kunst und Alltäglichkeit.

Auch dieses Werk „50 % After Costs“ aus der Serie „Global Membership“ ist biografisch und ganz persönlich. Es entstand auf Initiative des Soho Houses – einem globalen Hotel und Members’ Club. Magst du uns erzählen, wie es dazu kam?

Oft entstehen meine Werke als Reaktion auf einen Impuls von außen. In diesem Fall erhielt ich vom Soho House die Anfrage, für deren neue Offices in London ein Werk beizusteuern, in dem das Soho House Berlin abgebildet werden sollte. Es gehört zu deren Konzept, immer einen Künstler aus dem jeweiligen Land, wo eines ihrer Häuser steht, um eine Arbeit zu bitten, die im Kontext dazu steht. Ich erhielt eine E-Mail von einer Mitarbeiterin namens Katie: „Dear Christian, how are you? I’m writing you ... bla, bla, bla.” Und dann schrieb sie: „My boss is upgrading us big time, we get new office spaces.” Und jetzt brauchen sie ganz dringend Kunstwerke dafür ... In dieser E-Mail fand ich so viel wieder, was ich aus der permanenten Ökonomie des Kunstschaffens kenne. Dass beispielsweise bei einem Verkauf 50:50 mit der Galerie geteilt wird, habe ich als Kunststudent gelernt: 50 % bekommt die Galerie, 50 % der Künstler.

Und? Hast Du nun auch eine global membership beim Soho House?

Natürlich (lacht)! Auch das gehört zum Wirtschaften des Künstlers: Man gibt ein Kunstwerk und erhält dafür Kost und Logis. Das altbewährte Prinzip des Gebens und Nehmens. Hier war es genauso: Alle Bedingungen sind in dieser E-Mail wunderbar zusammengefasst. Und ich habe sie auf diese alten Koffer geschrieben. Alle diese Koffer bergen natürlich auch ihre Geschichten in sich. Es gibt Koffer, die nur zwei Rollen haben oder auch gar keine – aus den 70ern, als die Leute ihren Koffer noch getragen haben. Ohne Rollköfferchen geht im Kunstbetrieb heutzutage gar nichts mehr. Auch ich bin nur mit Handgepäck auf vier Rollen unterwegs. Auf jeden Fall sind diese Gehäuse, diese Koffer, alle beschrieben; sie sind beschriftet mit Zitaten aus dieser E-Mail. Man sieht mich mit 14 bemalten Koffern, und ich winke gerade mit der Hand nach einem Taxi. Mit all diesem „Gepäck“ werden viele Taxifahrer einen großen Bogen um mich machen, wenn sie so viele Koffer bei mir stehen sehen

Ja, vermutlich. Es hat keiner gehalten, oder?

Nein, es hat keiner gehalten. Für das Foto hat es sich aber gelohnt. Und als ich die ganzen Koffer dann bemalt und beschrieben hatte, dachte ich: Spitzenmäßige Objekte! Auch die Korrespondenz zwischen einem gebrauchten Koffer hinter einem Acrylglaskubus und diesem Foto ist spannend. So wird daraus eine serielle Arbeit – obwohl es doch alles Unikate sind, weil jeder Koffer, jedes gemalte Zitat anders ist. Auf einem steht zum Beispiel: „My boss is upgrading us big time“ – so fing die E-Mail ja an, wie wir uns erinnern. Oder hier: ”A Special collection that speaks worldwide”.

Klar, globaler Anspruch!

Das ist so und das muss auch so sein. Das Soho House hat eine gute Entscheidung getroffen, Leute zu engagieren, die etwas von Kunst verstehen – wie Katie, die nun Teil dieses Kunstwerks ist.

Also empfandest du diese E-Mail nicht als frech, anmaßend oder als einen Eingriff in deine künstlerische Arbeit?

Eigentlich hast du sie positiv aufgenommen und für dich daraus etwas entwickelt. Genau. Katie, die mir geschrieben hat, hat das sehr charmant gemacht. Nur so funktioniert es: Wenn einem jemand von Anfang an unsympathisch ist und man denkt, da stimmt die Chemie nicht, dann macht man es nicht. Deswegen gehört dazu auch eine nette E-Mail – man merkt, mit welchem Enthusiasmus sie schreibt. Und noch dazu hatte sie die Größe, mein Werk mit ihren Zitaten als Arbeit zu akzeptieren. Sie hätte ja auch sagen können, dass ihre Aussagen interne Geheimnisse des Business sind und ich hier etwas zu viel von ihrer Geschäftskultur verrate.

Letztlich sind es Arbeiten mit dem System in dem System. Ich sage ja nicht: „Ihr seid böse“, denn ich stelle ja auch meine Käuflichkeit aus. Ich lasse mich auf die 50/50 ein und bin froh die Arbeit realisiert zu haben. Dass man mit den Menschen auf Augenhöhe spricht, finde ich gut, deshalb finde ich auch 50:50 gut

Christian Jankowskis Werke sind unter anderem erhältlich über die Galerien www.lissongallery.com, www.cfa-berlin.de und www.petzel.com. Weitere Informationen über den Künstler erhalten Sie direkt unter www.christianjankowski.com oder auf Instagram unter christianjankowski_official.