Ateliergespräch - herman de vries

Bereits 1962 wurde der Niederländer herman de vries als Mitbegründer der Gruppe ‚nul‘ im Amsterdamer Stedelijk Museum ausgestellt. Er ist heute in zahlreichen Sammlungen namhafter internationaler Museen vertreten. Im Jahr 2015 gestaltete der heute 85-jährige de Vries unter dem Titel to be all ways to be den niederländischen Pavillon auf der 56. Biennale in Venedig. Parallel wurden seine Werke auf den ZERO Ausstellungen im Berliner Gropius-Bau und im New Yorker Guggenheim Museum gezeigt. Gerade ist sein bibliophiles Künstlerbuch the earth museum catalogue erschienen, der die Austreichungen von circa 8000 Erdproben zeigt, die der Künstler weltweit in knapp 50 Jahren zusammentrug. Nach seiner ersten Museumsschau in Hamburg im ersten Halbjahr diesen Jahres hatten Rene S. Spiegelberger und Dr. Anke Brack die Gelegenheit, mit ihm in seinem Atelier über sein einzigartiges Werk zu sprechen.

Rene Spiegelberger mit Herman de vriesRSS: Doppelt hält besser... Wir haben nicht viel, Herr de Vries, wir haben jeder so fünf Fragen.

hdv: In Venedig hatte ich sehr viele Interviews. Bei den ersten zwei war ich sehr gespannt. Und oft waren es dieselben Fragestellungen. Ich habe dann auch mal gefragt: „Können Sie nicht andere Fragen stellen?“ Aber auch, wenn es dieselbe Frage war, ich habe immer neue Antworten gehabt.

DAB: Also ich habe mich gefragt: Woher kommt Ihre innige Beziehung zur Natur?

hdv: Primär von meinen Eltern, die auf dem Lande gelebt hatten und dann später in die Stadt gezogen sind, aber immer die Beziehung zur Natur behalten haben. Sie gingen am Wochenende immer in die Dünen. Und als Kind wurde ich immer mitgenommen. Ich habe in kleinen Dünen gelegen, wo Schmetterlinge waren, wo es anders gerochen hat, so etwas Mooriges, wo kleine Pflanzen wuchsen – Sonnentau und Parnassia – das kenne ich alles aus meiner Kindheit. Und wo die Möwen drüber geflogen sind, da habe ich zwischen den Zwergbirken gelegen, Luft aufgesaugt. Diese Beziehung habe ich behalten. Die verdanke ich meinen Eltern.

DAB: Haben Sie mal in der Stadt gelebt? Leben Sie gern in Städten oder ist es immer wieder die Sehnsucht eigentlich zur Natur?

hdv: Ich habe immer ein großes Bedürfnis, in der Natur zu sein, besonders in den Wäldern. Ich finde es auch interessant, in einer Stadt zu sein. Auch meine künstlerischen Beziehungen sind in den Städten – die Bauern in diesem Dorf kaufen keine Kunst. Amsterdam ist eine interessante Stadt, Paris ist eine interessante Stadt, Katmandu ist eine interessante Stadt – all diese Städte sind sehr interessant für mich zu besuchen für kürzere oder längere Zeit. Meist habe ich nach ein paar Tagen genug.

RSS: Herr de Vries, Sie haben zu Protokoll gegeben, dass Sie in Ihrem Leben mehr als 480 Arten von Pflanzen zu sich genommen haben. Ich finde erst mal erstaunlich, dass Sie das beziffern können und zum Zweiten würde mich interessieren: Was haben Sie da dem Durchschnittsbürger voraus?

hdv: Ja, was habe ich dem Durchschnittsbürger voraus? Ich weiß es nicht. Die Menschen essen Gemüse – heutzutage auch exotisches –, aber die Pflanzenkenntnisse der Menschen sind gering. Es gab in den Achtziger Jahren eine Umfrage, wie viele Pflanzen die Menschen noch beim Namen kennen. Das waren in Deutschland durchschnittlich sechs Pflanzen. Aber wenn man einen Buschmann in der Kalahari fragt, kennt er 180 Pflanzen beim Namen. Und dazu noch über 200 Anwendungen. Das ist ein Unterschied. Das ist eine kulturelle Verschiebung gegenüber der Natur. Eine enorme kulturelle Verarmung. Wir wissen anderes, aber die Natur ist die Basis. Ohne diese Basis passiert nichts.

DAB: Sie haben eine Gartenbau-Schule besucht. Sie haben als Landarbeiter gearbeitet, Sie waren Mitarbeiter im Pflanzenschutzdienst –

hdv: - und am Institut für Angewandte Biologische Forschung in der Natur.

DAB: Genau. Das heißt, Ihre Kunst basiert auf einer tiefen Kenntnis der Natur.

hdv: Ja. Liebe macht bedürftig nach Kenntnis.

DAB: Wann kam denn die Erkenntnis, also der künstlerische Aspekt dazu?

hdv: Was ist Kunst? Kunst hat sehr viele Definitionen. Das ist berechtigt, dass es viele gibt. Das ist eines der wenigen freien Gebiete in unserer Gesellschaft, komplett frei. Für mich ist Kunst ein Beitrag zu Bewusstsein und Bewusstwerdung. In diesem Sinne kann ich diese Frage beantworten.

RSS: Sie gelten als Mitbegründer der Gruppe nul, die den Ideen der ZERO-Bewegung sehr nahesteht. Wie haben Sie persönlich jetzt in den letzten Jahren die Renaissance dieser Bewegung und dieser Kunstidee empfunden und wahrgenommen?

hdv: Ja, gut und schön. Es hat mich gefreut. Auch für meine jetzige Arbeit und in den letzten Jahrzehnten ist ZERO immer noch die Basis. Ich spreche nicht von nul, denn die nul-Bewegung war in Holland. Da war ich von Anfang an beteiligt, aber ich wurde dann rausgeworfen – das war nicht unbedingt eine freundschaftliche Beziehung zwischen den Kollegen. DAB: Sie sprechen von der „Poesie der Realität“ –

hdv: Black Poetry war das –

DAB: Sind Sie Realist oder Träumer?

hdv: Ich denke, ich bin ein Realist, der träumt. Oder ein Träumer, der denkt, dass er Realist ist. Man muss nicht so viel denken, man muss wissen...

RSS: Das ist doch vielleicht sogar die schönste Variante... Da kann ich vielleicht gleich anknüpfen mit Change and Chance – Chance of Change. Das ist ein Zitat, das Ihnen sehr wichtig ist. Und ich glaube mit diesem Wechsel meinen Sie nicht unsere urbane, über-medialisierte Informationsgesellschaft, sondern Sie beziehen das auf andere Punkte. Was ist der Kern dieser Aussage?

hdv: Diese Gesellschaft gehört auch dazu. Alles ist in Änderung und bietet immer neue Chancen.

DAB: Sie möchten mit Ihrer Kunst die Unterschiede zwischen Mensch und Natur überbrücken. So habe ich das ein bisschen verstanden. Sie beklagen eigentlich die schlechte Verbindung. Was treibt Sie um, sind Sie Naturschützer, sind Sie ein Bewahrer oder ist es die Liebe zur Natur? Oder ein bisschen von allem?

hdv: Ja, ein bisschen von allem. Ich finde Naturschutz wichtig, es wird viel zu wenig Natur in ihrer Originalität bewahrt. Es ist meine Liebe... Ich weiß nicht. Das kann ich nicht genau sagen. Aber diese Verbindung, die ich habe – eine Verbindung, die in mir gefestigt ist, die zu meinem natürlichen Programm gehört, zu meiner Jugend, und sich hier immer weiter entwickelt hat. Das kommuniziere ich. Und diese Verbindung zu kommunizieren, ist meine Funktion als Künstler. Wobei ich auch finde, die jetzige Welt entwickelt sich viel weiter von der Natur weg, obwohl das die Basis ist. Natur ist die Basis. Daraus entwickelt sich unsere Kultur. Das älteste Kulturobjekt ist die Sichel zum Ernten. Ich habe eine große Sammlung von Sicheln. Das ist unsere primäre Beziehung: ernten, essen. Das müssen wir alle. Das ist unsere Kultur. Und die Kultur entwickelt sich auch später, in einer dritten Welle, das Virtuelle. Und sie bewegt sich weiter von der Natur weg, aber ohne die Natur, ohne unsere Grundlage, kann die dritte Welle überhaupt nicht bestehen.

RSS: Erden, Holz, verbranntes Holz, Steine sind einige Ihrer Werkstoffe. Zumeist handelt es sich dabei um Fundstücke. Und viele dieser Fundstücke haben Sie nicht selbst gefunden, sondern werden von anderen Menschen zu Ihnen gebracht. Das hat auch einen partizipativen Charakter. Ist das Teil Ihrer Kunst, dieses partizipative Element? Und wenn Sie Fundstücke selber finden, wie findet dann die Auswahl statt?

hdv: Ich springe gern mal über Grenzen. Und das Kollektive ist umgrenzt, zwischen Individuum und Kollektivem. Damit vereinigen sich die Dinge. Unity.

DAB: Ich habe Sie vorhin gefragt: Was sammeln Sie eigentlich nicht? Was mir aufgefallen ist, wenn man bei Ihnen durchs Atelier geht: Sie sammeln mehr Gegenstände von Menschen. Arbeiten, wo sie was gemacht haben. Ist das so eine Entwicklung zum Menschen hin?

hdv: Das zeigt, dass das, was ein Mensch tut, auch wieder zugrunde geht. Es ist der Prozess vom Verfall, der etwas Positives hat, dann wird es wieder in der Natur aufgenommen. So ein Objekt, das verfällt, am Verschwinden ist, ich nenne das „Artefakt“, da ist etwa das Dokument von diesem Prozess. Denn das ist auch ein natürlicher Prozess. Und ich war jetzt auf der Insel Gavdos, da sind nur noch vierzig Einwohner. Es sind ganze Ortschaften, die nicht mehr bestehen, die einstürzen. Ich bin durch den Iran gereist, da war eine Ortschaft aus Lehmhügeln, aus denen noch ein paar Mauerreste hervorkamen. Lehmhäuser, die verfallen... da wird die menschliche Situation in der Natur aufgenommen. Verfall hört sich negativ an, aber es ist auch ein positiver Prozess, ein lebendiger Prozess. Also ich sammle unter anderem Artefakte, weil ich diesen Aspekt von unserem Dasein interessant finde. In Zusammenhang mit der Natur ist der Prozess Chance und Veränderung.

DAB: Um noch mal auf Ihr Alter zu kommen. In den Medien werden Sie ja sehr gern mal als großer Naturkunst-Pionier gefeiert, gleichzeitig immer als „LSD-Opa“ bezeichnet. Was schmeichelt mehr?

hdv: „Opa“ finde ich nicht so schön, aber LSD hat einen großen Einfluss auf mein Leben gehabt. Ich war ein schwerer Asthmatiker. Von meinem sechsten Lebensjahr an zunehmend – ich hatte Asthma-Anfälle, die wochenlang dauerten. Ich hatte ein schweres, schweres Leben. Hatte eine Lebenserwartung von höchstens 50. Ich kannte Hippies, die immer über LSD erzählten, und da hab ich mich dafür interessiert, und dann wusste ich, damit kann man Änderungen erzielen. Chance auf Änderung. Und ich habe gesagt: „Besorgt mir etwas.“ Ich habe dann LSD genommen, das war eine interessante Erfahrung. Dann, beim zweiten Mal, war es eine Überdosis, das wusste ich nicht, und das hat 17 Stunden gedauert – normal dauert es sechs Stunden bis acht Stunden. Und in dieser Erfahrungswelt – man ist wie ein kleines Kind, wie ein Baby, das Programm fällt weg – da habe ich einen Asthma-Anfall bekommen. Da habe ich gedacht: „Oh, ein Asthma-Anfall. Da muss ich nicht drauf eingehen.“ Wenn du durch einen Tunnel rast, musst du immer ausweichen – links, rechts, links, rechts – und ich bin rasend schnell durch diesen Tunnel-Komplex geschossen. Ich kam raus in einer schillernden Farbenlandschaft. Und das Asthma war weg und ist niemals mehr zurückgekommen. Ich habe zwar noch Atembehinderungen, weil ich ein Lungenemphysem vom Asthma übrig behalten habe. Aber das Asthma ist weg. Das verdanke ich LSD. Und ich kenne den guten Herrn Albert Hofmann, ich bin ihm mehrmals begegnet, ich habe auch mal einen Vortrag gehalten über diese Dinge. Und Albert Hofmann ist auf mich zugekommen und hat mich herzlich umarmt, weil er soviel Negatives gehört hat und froh war, eine so positive Geschichte zu hören. Ich bin LSD sehr dankbar. Denn ich wäre keine 50 geworden – ich bin jetzt 85! Zwar alt, aber noch lebendig. Und ich habe noch immer eine lebendige Erfahrungswelt zur Verfügung, das verdanke ich LSD und Albert Hofmann.

RSS: Meine letzte Frage spielt auf eine künstlerische Verwandtschaft an: Beuys hat gesagt, der Mensch spürt, dass die Pflanzen und Tiere seine Verwandten sind. Fühlen Sie sich mit seiner Arbeit im Biologischen und im Sammlerischen verwandt?

hdv: Ja.

RSS: Vielen Dank, Herr de Vries, für das Gespräch.

Rene S. Spiegelberger und Frau Dr. Anke Brack führten das Gespräch am 21. Juli 2016 im Atelier des Künstlers. Herman de Vries wird in Deutschland unter anderem vertreten von den Galerien Geiger, Konstanz (galerie-geiger.de) und Holger Pries, Hamburg (holgerpriess.com). Informationen zu Herman de Vries und dem Earth Museum Catalogue erhalten Sie auf hermandevries.org.